Der Verfassungsschutz und die Identitäre Bewegung – Einblicke aus dem Verfahren (Teil 01)  

In der Politikwissenschaft und auch in der langjährigen Praxis des Verfassungsschutzes gab es ein klares und trennscharfes Verständnis von Radikalität und Extremismus. Radikal sind demnach alle Positionen, die zwar als politisch randständig gelten, aber dennoch im Verfassungsbogen angesiedelt sind. Extremistisch hingegen agieren Personen und Organisationen, die in aktiv-kämpferischer Weise Schutzgüter der Verfassungsordnung bekämpfen. Insoweit galten einwanderungskritische Positionen, die jedoch nicht in rassistische und stereotype Pauschalurteile und Abwertungen sowie in eine biologistisch-sozialdarwinistische Auslegung gekippt sind, in manch überspitzter Form als radikal, aber noch nicht als extremistisch. In Bezug auf die Migrations- und daran angeknüpfte Identitätspolitik gab es offenbar klare Kriterien was verfassungsfeindlich war und was nicht.

Selbst der Verfassungsschutz musste in seinen Schriftsätzen im Verfahren gegen die Identitäre Bewegung feststellen, dass die Forderungen nach einer souveränen Einwanderungssteuerung, die sich auch auf Elemente der kulturellen Nähe bezieht, noch kein Indiz für Verfassungsfeindlichkeit sei.

Spätestens mit dem NPD-Urteil vom 30.01.2017 beim Bundesverfassungsgericht wurde jedoch ein neues Paradigma geschaffen, in dem erstmals das Einstehen für einen ethnischen Volksbegriff als eine verfassungsfeindliche Position gewertet wurde. Dies hatte zur Folge, dass nicht mehr nur die abseitigen Forderungen NPD in ihrem Gesamtkontext als klar verfassungsfeindliche eingeordnet wurden, sondern Schritt für Schritt sämtliche weitere Positionierungen für eine restriktivere Einwanderungspolitik und kritische Haltungen gegenüber den gängigen Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Herkunft in einen Topf geworfen wurden.

Zentraler argumentativer Ansatzpunkt des Bundesverfassungsgerichts war die Haltung der NPD, dass diese die Staatsangehörigkeit und die damit verbundenen Rechte und Pflichten an die ethnische Zugehörigkeit knüpfen wolle. Demnach würden sich alle juristischen Bezüge zur Staatsangehörigkeit ausschließlich an ethnischen Herkunftskriterien messen lassen müssen. Eine Position, die sich kaum in der Realität halten könnte.

Diese absolute Auslegung der NPD wurde jedoch einfach analog auf weitere politische Akteure im patriotischen und rechten Milieu ausgeweitet und folgt dabei immer wieder der gleichen Linie aus Unterstellungen und argumentativen Strohmännern. So unterstellt der Verfassungsschutz bspw. der Identitären Bewegung das politische Ziel eines „ethnisch-homogenen Volkes“. Dass diese Homogenität sich jedoch immer nur in Bezug zu einer relationalen Betrachtung mit vielen Abstufungen und Grauzonen verhält, wird dabei bewusst ignoriert. Mit dem Schlagwort der ethnokulturellen Identität versucht die Identitäre Bewegung die Substanz und das Verhalten menschlicher Großgruppen in Form von Völkern zu beschreiben. Hierbei beschränken sich Völker nicht allein auf ihre biologisch-genetischen Dispositionen und Gemeinsamkeiten, sondern sind in ein komplexes Netz von Sprache, Kultur, Tradition, Verhaltensnormen, sozialem Gefüge und einem gemeinsamen historischem Bewusstsein eingespannt. Die ethnokulturelle Identität zeichnet sich also durch narrative und reale Kontinuitätslinien aus und kann somit weder verabsolutiert auf ihre ethnische noch ihre kulturelle Trägerschaft reduziert werden. Es sind Wechselwirkungen und sich ergänzende Beziehungsgeflechte, deren Strukturen auch über staatliche Normierungen hinausgehen und in der Geschichte trotz aller Brüche und Neuordnungen immer auch einen identitären Kern haben, der die Exklusivität und Einzigartigkeit eines Volkes auszeichnet.

Der Verfassungsschutz und die Gerichte folgen jedoch – gewissermaßen spiegelverkehrt – einer ähnlichen reduktionistischen Linie wie die NPD es tut. Während die NPD für die Staatsangehörigkeit ausschließlich auf den ethnischen (konkreter; biologistischen) Aspekt abzielt, so ist für den Verfassungsschutz die Staatsangehörigkeit und damit auch der Volksbegriff abschließend über eine formaljuristische Setzung beschrieben. Das deutsche Volk wird in beiden Erklärungsmustern jedoch entweder über die Ethnie und Staatsangehörigkeit In-Eins gesetzt oder in den vielfältigen Beschreibungen und Indizien seines identitären Charakters auf eine juristische Festlegung normiert. Die Identitäre Bewegung will aus dieser Dichotomie ausbrechen. Die Forderung nach dem Erhalt der ethnokulturellen Identität kann Einbürgerungen, Integrations- und Assimilationsprozesse von Fremden mit einschließen. Wie restriktiv oder liberal dies ausgelegt wird, obliegt politischen Steuerungsmechanismen. Staaten und Regierungen müssen die Souveränität darüber haben, wer einwandern darf und wer nicht. Fragen über Einwanderungsquoten- und Kontingente, Grenzsicherung, Leitkulturpolitik und die rechtlichen Voraussetzungen für die Vergabe von Staatsangehörigkeiten müssen Teil der diskursiven, politischen Sphäre sein. Demokratiepolitisch erscheint es aber besonders fragwürdig, dass der Verfassungsschutz solche entscheidenden, identitätspolitischen Debatten mittels Beobachtung und Diffamierung direkt erstickt. Selbst die Gerichte erkennen eigentlich an, dass das Grundgesetz die Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit dem Gesetzgeber, also der politischen Legislative, überlassen sind. Somit muss es auch zulässig sein über Fragen zum Erhalt der ethnokulturellen Identität zu diskutieren, ohne dabei in eine beschränkende Dichotomie zwischen Rassismus und Auflösung sämtlicher identitärer Bezüge zu verfallen.

Zur finalen Begründung dieser Unterstellungen verstecken sich Verfassungsschutz und Gerichte immer wieder hinter dem nebulösen Begriff der „Menschenwürde“, die in Artikel 1 des Grundgesetzes festgeschrieben ist.  Demnach sei ein ethnokulturell verstandener Volksbegriff immer auch ein Verstoß gegen die Menschenwürde, da dies Einwanderergruppen und Fremde in Menschen erster und zweiter Klasse kategorisieren würde. Gerichte und der Verfassungsschutz übergehen hier schlicht und ergreifend die multidimensionalen Beschreibungsebenen des Volksbegriffes. Das deutsche Volk sei demnach identisch mit der Summe seiner Staatsangehörigen und jener Spätaussiedler und Vertriebener nach Artikel 116 GG. Es gäbe demnach kein exkludiertes ethnisch-definiertes deutsches Volk, dass getrennt von den Staatsangehörigen betrachtet werde könnte.

Diese Position von VS und Gerichten ist schon historisch betrachtet höchst problematisch. In einer derartigen Logik wäre das deutsche Volk aus seinen zeitkontextuellen Linien herausgebrochen. Außerdem ist auch die Bundesrepublik Deutschland zunächst vom deutschen Volk konstituiert und legitimiert. Nicht der Staat schafft das Volk, sondern das Volk bildet seinen Staat und seine Nation, die immer nur aus dem Willen des Volkes entspringen. Selbstverständlich braucht ein Staat immer auch einen rechtssicheren Rahmen, der sein Volk definiert. Die ethnokulturelle Identität eines Volkes jedoch zu negieren, lässt sich weder historisch, soziologisch noch anthropologisch halten. Der Verfassungsschutz entzieht mit seiner Festlegung vom deutschen Volk als die Summe seiner Staatsbürger jeglicher substanziellen Debatte über entscheidende Zeitfragen von Einwanderung, Multikulturalismus, Integration, sozialer Harmonie und Demokratie die Legitimation und macht sich damit auch zum Vollstrecker einer linkspolitischen Agenda. Wenn wir von Völkern sprechen, so werden damit auch menschliche Großgruppen beschrieben, deren Identität sich auch aus vorstaatlichen Ordnungs- und Identitätsstrukturen beschreiben lässt.

Nicht umsonst bedient sich auch die Regierung bei der Beschreibung von ethnischen Minderheiten verschiedener Definitionsinstrumente und Indikatoren, die von staatlichen Zusammenfassungen und Komprimierungen abgekoppelt sind. Die Geschichte kennt hunderte Beispiele in denen regionale ethnische Gruppen in staatliche Einheitsblöcke zusammengefasst wurden. Ob es die Basken in Spanien, die Bretonen in Frankreich, die Schotten und Waliser in Großbritannien waren; stets lassen sich Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Völker oftmals nur über ethnokulturelle Faktoren und Entwicklungslinien beschreiben. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und ihre Nationswerdung im Europa des 19. Jahrhunderts setzen immer ein Volk oder eine ethnisch-kulturelle Gruppe bereits als Essenz voraus. Dies hat nichts mit totalen „Homogenitätsvorstellungen“ und einem „Reinheitswahn“ (VG Berlin Beschluss gegen die Identitäre Bewegung vom 19.06.2020), wie der Verfassungsschutz und die Gerichte unterstellen, zu tun. Es geht um den Kern und die Ursprünge der Volkswerdung, die Kontinuitäten und Brüche, die identitären Charakteristika, kulturellen Werte und Normen, das gemeinsame historische Bewusstsein, die Tradition und die sozialen Bindungen und Strukturen. Wenn wir also einfordern, dass der Staat eine Verantwortung zum Schutz der ethnokulturellen Identität hat, so ist damit immer auch der Schutz des Souveräns gemeint, der ihn demokratisch legitimiert und die Grundlage seiner verfassungsmäßigen Praxis und Existenz sichert. Und da Staaten immer noch als partikulare und sich einander differenzierende Einheiten darstellen, muss dieser Fakt für die Träger des Staates (Völker) gelten.

 

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