Das Multikulturalismus-Paradox
Saskia ist eine deutsche Studentin in einer deutschen Großstadt. Sie versteht sich selbst als multikulturell, das heißt, dass sie echtes Vergnügen an ethnischer und kultureller Vielfalt empfindet. Sie geht beispielsweise gerne ausländisch essen und möchte die jeweilige Kultur dann natürlich auch möglichst authentisch erleben.
Nun ergibt sich für Saskia plötzlich ein Problem: Der Kellner, der ihr eben das bestellte Papadam und das Curry serviert hat, ist kein Inder, sondern ein Weißer. Das stört Saskia, weil sie gerne mit einer fremden Kultur konfrontiert werden möchte, wenn sie ausländisch essen geht.
Darüber gerät sie ins Grübeln. Verhält sich dieser weiße Kellner im Sinne der multikulturellen Forderung einer gleichwertigen Durchmischung nicht völlig korrekt? Indem Saskia der Frage nachgeht, was genau sie daran stört, gelangt sie zu der Einsicht, dass ihr Vergnügen an ethnischer und kultureller Vielfalt davon anhängt, dass die anderen ethnisch und kulturell unterscheidbar bleiben. Ein Leben zwischen den Kulturen kann sie nur genießen, wenn sie selbst auch in der ihren verwurzelt bleibt und so weiterhin ein spürbarer Unterschied besteht. „Um multikulturell zu sein, [muss] sie es mit monokulturellen Menschen zu tun haben. Aber was [ist] dann mit ihrem Ideal der multikulturellen Gesellschaft?“ [1]
Saskias Zweifel sind durchaus berechtigt. Der liberale Multikulturalismus propagiert zwar die Achtung vor anderen Kulturen, strebt dabei aber eine Lebensweise an, die sich zwischen den Subkulturen einer Gesellschaft bewegt wie der Zoobesucher zwischen verschiedenen Tierkäfigen. Der ideale Multikulturalist ist jemand, der heute eine Moschee besucht, morgen buddhistische Meditation betreibt und übermorgen argentinischen Tango tanzt und ein leckeres kongolesisches Gericht zubereitet – „weil es ja immer so spannend ist, fremde Kulturen zu entdecken“. Der Multikulturalist transzendiert also jede „Monokultur“, macht sie sich als bloße „Option“ verfügbar und bewegt sich so auf einer Ebene, die ihm das Gefühl gibt, seine eigene ethnokulturelle Bedingtheit überwunden zu haben.
Dies führt uns zu einem grundlegenden Widerspruch des Multikulturalismus. „Wer in seiner eigenen Tradition verhaftet bleibt, verkörpert dieses Ideal nicht und ist somit – ungeachtet allen Geredes über die ‚Achtung vor anderen Kulturen‘ – dem aufgeschlossenen Multikulturalisten unterlegen.“ [2] Die multikulturelle Lebenshaltung enthält also einen stark überheblichen Unterton. Zugleich ist der Multikulturalist aber auf Menschen angewiesen, die einfach ihre eigene Kultur leben und erhalten. Wenn sich zu viele Menschen in die „Käfige“ hinein- oder aus ihnen hinausbewegen, verlieren sie für den Multikulturalisten ihre Attraktivität. „Wären alle Leute so kulturell promiskuitiv wie er, gäbe es weniger echte Unterschiede, an denen man sich ergötzen kann. Folglich muss der Multikulturalist einer Elite angehören, die sich parasitär von homogenen Monokulturen nährt.“ [3]
Wer den Multikulturalismus als erstrebenswertes Ideal betrachtet, bringt damit indirekt zum Ausdruck, „dass derjenige, der lediglich in einer Kultur lebt, sich mit einem minderwertigen Dasein begnügt – was dem Gedanken von der Achtung vor allen Kulturen widerspricht.“ [4] Der Multikulturalist und mithin die Ideologie des Multikulturalismus streben – bewusst oder unbewusst – eine Aufweichung aller ethnokulturellen Unterschiede an, indem immer mehr Menschen „multikulturell“ leben. Dies wiederum „führt zu einer Minderung der Vielfalt, die der Betreffende wertzuschätzen behauptet.“ [5] Das heißt nichts anderes, als dass die sogenannte multikulturelle Gesellschaft ihre eigenen Voraussetzungen zerstört.
Saskia sieht sich also vor ein Paradox gestellt: Wenn sie weiterhin „die Vielfalt der Kulturen genießen möchte, kann sie nur hoffen, dass die anderen es mit dem Multikulturalismus nicht ganz so ernst nehmen wie sie selbst.“ [6] Denn diese Lebensform funktioniert nur, solange genug kulturelles „Material“ vorhanden ist, das nicht-multikulturelle Völker hervorgebracht haben.
(Die Idee sowie einige Zitate sind übernommen von Julian Baggini: „Das Papadam-Paradox“, veröffentlicht in „Das Schwein, das unbedingt gegessen werden möchte“, Piper Verlag, München 2007.)
[1] Julian Baggini: „Das Schwein, das unbedingt gegessen werden möchte“, S. 209
[2] Ebd., S. 209 f.
[3] Ebd., S. 210
[4] Ebd., S. 211
[5] Ebd.
[6] Ebd.